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von links nach rechts: Michael Emanuel Bauer, Benny Lackner, Max Nauta, Uli Kempendorff, Ibadet Ramadani, Nikolaus Neuser, Jason Liebert, Ernst Bier, Oliver Held, Friedrich Wilhelm Rödding
BACKGROUND + STORY
Anfang der 80er-Jahre schreibt der Franzose Jean-Jacques Schuhl, inzwischen Literaturpreisträger des PRIX GOUNCOURT, das Libretto für TOT IN NEW YORK. Peer Raben, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder bekannt, komponiert daraufhin eine Funkoper, die 1982 bei der Erstausstrahlung im Radio mit dem Slogan „Ein Film zum Hören“ angekündigt wird. Interpretin und zugleich Widmungsträgerin des Stückes ist die Schauspielerin Ingrid Caven. Nach der Erstausstrahlung von Peer Rabens Funkoper im Radioprogramm des WDR bleibt die Resonanz erstaunlicherweise eher gering. Als der Deutschlandfunk das Werk nach 25 Jahren erneut ausstrahlt, sieht man sich gezwungen, auf einen privaten Mitschnitt der Uraufführung zurück zu greifen. Das Sendeband ist in den Rundfunkarchiven verloren gegangen. Ähnliches gilt für Peer Rabens Originalpartitur, die in den 90er Jahren im Haus des Komponisten einem Zimmerbrand zum Opfer fiel. Inspiriert vom „No future“-Motto der 80er hatte JJ Schuhl nicht zufällig New York als Ort der Handlung ausgewählt. Die US-amerikanische Metropole dient damals vielen Intellektuellen als Projektionsfläche einer weltweit voranschreitenden Apokalypse. Die Morde und Gewaltdelikte auf New Yorks Straßen sind in bis dato unbekannte Höhen geschnellt. Ein nächtlicher Stromausfall und die damit verbundenen Plünderungen und Vergewaltigungen hat den Bürgern der Stadt vor Augen geführt, dass die Gesetzlosigkeit der Slums von der Peripherie längst bis ins Zentrum Manhattans vorgedrungen ist. In diesem Kontext wirken die Schüsse, mit denen ein verwirrter Attentäter auf dem New Yorker Time Square den Ex-Beatle und „Give peace a chance“-Aktivisten John Lennon ins Jenseits befördert, nur noch wie die zynische Zusammenfassung des Niedergangs aller humanistischen Träumereien. Vor einem derart klaustrophobischen Hintergrund entfaltet JJ Schuhl in TOT IN NEW YORK die Geschichte einer Chansonsängerin, deren Auftritt in der Carnegie Hall unmittelbar bevorsteht. Während sie im Paramount-Hotel in der Anonymität des Zimmers 1050 noch einmal ihr Songrepertoire durcharbeitet, rückt der New Yorker Großstadtlärm immer näher. Die Konzentration der Sängerin leidet. Aufheulende Polizeisirenen und die Allgegenwärtigkeit der TV-Channels verwirren ihr von Lampenfieber und Kokain aufgeputschtes Hirn. Wortfetzen aus Werbeblöcken, News und Spielfilm-Sequenzen stiften Assoziationen und setzen sich in ihrem Liedgut fest. Plötzlich künden Sondermeldungen von einem Attentat, das im nahen Waldorf-Astoria auf den Popstar David Bowie verübt wurde. Der Schütze sei in Richtung Carnegie Hall lüchtig.
ZUR NEUEN TEXTFASSUNG
Anfang 2012 machte sich der Berliner Autor Oliver Held daran, eine aktualisierte Textfassung von TOT IN NEW YORK zu erstellen, - eine Rekonstruktion und Neufassung zugleich. Hatte JJ Schuhl bei der Niederschrift die Handlung seines Stückes noch spekulativ ins sechs Jahre spätere 1988 verlegt, blickt Oliver Helds Bearbeitung auf dasselbe Datum mit dem Abstand von zweieinhalb Dekaden zurück. Angereichert mit Bildern und O-Tönen aus dem Jahr 1988 mutiert das Stück in der aktualisierten Version zu einem Labor des damaligen Zeitgeists. Es entsteht das Bild einer Epoche, in der das „Ende der Geschichte“ gerne als unumstößliche Gewissheit verkündet wurde. Beschränkte sich JJ Schuhl bei der Schilderung eines (fiktiven) David-Bowie-Attentates in der ursprünglichen Version von TOT IN NEW YORK noch auf wenige Textzeilen, entwickelt die Neuversion über mehrere „Breaking Newsâ“ hinweg das Portrait eines Bowie-Attentäters, dessen Ambitionen im Moloch der Großtadt gründlich gescheitert sind. Der Mann greift zur Waffe, um durch eine spektakuläre Mordtat wenigstens die legendären 15 Minuten „Fame“ zu ergattern, die ihm die eigene Existenz vorenthalten hat.
ZUR MUSIKBEARBEITUNG
Für TOT IN NEW YORK hat Peer Raben eine Musik voll emotionaler Schattierungen geschaffen, deren Gestaltungs- und Montageprinzipien den Gesetzen des Kinos nachempfunden sind. Leitmotivische Orchesterparts beschwören die morbiden Stimmungen und Situationen von Barbara Stanwyck in WITNESS TO MURDER, Ingrid Bergman in GASLIGHT oder Anna Magnani in L´AMORE. Um den cineastischen Ansatz der Musik zu unterstreichen, hat Michael Emanuel Bauer, langlähriger Mitarbeiter und Assistent von Peer Raben, von den Orchesterpassagen aus TOT IN NEW YORK eine Partitur für Kinoorgel geschaffen. Bis zum Beginn der Tonfilmära war es in vielen Kinopalästen üblich, die allzu kostspielig gewordenen Filmorchester durch diesen hochkomplexen Klangkörper zu ersetzen. Auf einer 1921 in den USA gefertigten „Mighty Wurlitzer“-Kinoorgel, die sich heute in Celle/Niedersachsen in Privatbesitz befindet, hat der polnische Konzertorganist Piotr Gudeldie von Michael Emanuel Bauer neu geschaffene Partitur eingespielt. Betreut wurde die Aufnahme von Werner Dabringhaus. Der Gründer des audiophilen Detmolder Klassiklabels MDG gilt weltweit als Koryphäe dreidimensionaler Aufnahmetechnik. Durch seine Mitwirkung wird es mölich, den einzigartigen Sound der Wurlitzer-Kinoorgel während der szenischen Aufführungen per Zuspielband in einer klangrealistischen 6-Kanal-Wiedergabe zu präsentieren.
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Press:
Wortreich schildert das Beiheft zu „Tot in New York“ die Motivation des Theater-, Hörspiel- und Filmautors Oliver Held, ein Hörspielerlebnis, das er selbst im Jahr 1982 in seinem VW Käfer an der Grenze zwischen WDR- und NDR-Land hatte, mit seinen heutigen Zeitgenossen zu teilen. „Tot in New York“ ist das Werk von Peer Raben (vielfacher Filmkomponist für Fassbinder) und Jean Jacques Schuhl. Sowohl Noten als auch Originalbänder sind laut Held verloren. Also trommelte er Musiker der Berliner Jazzszene zusammen und bat den Komponisten und Theatermusiker Michael Emanuel Bauer, der Mitarbeiter des 2007 verstorbenen Raben war, nach einem Kassettenmitschnitt der WDR-Produktion von 1982 eine Neufassung zu erstellen. Schauspielerin Ingrid Caven, Ex-Frau Fassbinders, hatte 1982 die Hauptrolle gesungen: eine Sägerin, die mit ihrer Band im Hotelzimmer auf den Auftritt in der Carnegie Hall wartet, als die Radiomeldung eines Attentats auf David Bowie die Stimmung verunsichert. Der bei der Neueinspielung mitwirkende Trompeter Nikolaus Neuser bezeichnet „Tot in New York“ als „Trash-Musical“. Und damit trifft er den Kern der Sache sehr gut. Es handelt sich um eine gedankliche und auch musikalische Assoziations-Collage. So viel 80er (abgesehen von den ewigen Pop-Retros) war selten. Ibadet Ramadani singt die Songs mit klarer Chansonstimme. Und die Berliner Jazzer speilen als „The Dyed Blondes“ neu geschaffene Arrangements der Raben-Songs. Die Orchesterparts des Originals von 1982 übernimmt eine alte Wurlitzer-Kino-Orgel. Das hat einen atmosphärisch dichten Effekt. Insgesamt aber - bei aller Sympathie für den gekonnten Einsatz - fehlt dem ganzen Projekt das Zwingende, all die Mühe vermag die banale Gesamtwirkung nicht zu verdecken. FONO FORUM Nr. 10/2016 Johannes Schmitz
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